Komponist und Musiktheoretiker, Leiter des Instituts für Haydn- und Lisztforschung an der Joseph Haydn Privathochschule für Musik in Eisenstadt

Die Gegenwart…

….ist keine kultivierte Zeit.

„Man wird dazu kommen, das Beliebige Hin- und Herschlagen mit Fäusten auf dem Klavier in irgend welchen fünf oder siebenteiligen Rhythmen auch noch für interessante Kunst zu halten. Erst dann wird man, wenn man ganz ins natürliche bestialische Chaos zurückgefallen ist, wieder von vorne anfangen. So wird es auch mit dem Ethischen und Sozialen gehen, das sich die Kulturnationen mühsam erworben haben. Man will zum Urzustand zurück. Freut mich, dass ich es nicht erlebe.“ (Theodor Billroth, 1892)


„Die Gegenwart ist eine zivilisierte, keine kultivierte Zeit. Damit scheidet eine ganze Reihe von Lebensinhalten als unmöglich aus. Man kann das bedauern und dies Bedauern in eine pessimistische Philosophie und Lyrik kleiden – und man wird das künftig tun -, aber man kann es nicht ändern. Es wird nicht erlaubt sein, im Heute und Morgen mit aller Selbstsicherheit die Geburt oder Blüte von dem anzunehmen, was man gerade wünscht, wenn auch die historische Erfahrung laut genug dagegen redet.

Ich bin auf den Einwand gefasst, dass ein solcher Weltaspekt, der über die Umrisse und die Zukunft Gewissheit gibt und weitgehende Hoffnungen abschneidet, lebensfeindlich und für viele ein Verhängnis sei (…). Ich bin nicht der Meinung. Wir sind zivilisierte Menschen, nicht Menschen der Gotik oder des Rokoko; wir haben mit den harten und kalten Tatsachen eines späten Lebens zu rechnen, dessen Parallele nicht im perikleischen Athen, sondern im cäsarischen Rom liegt.

Von einer großen Malerei und Musik wird für den westeuropäischen Menschen nicht mehr die Rede sein. Seine architektonischen Möglichkeiten sind seit hundert Jahren erschöpft. Ihm sind nur extensive Möglichkeiten geblieben.

Aber ich sehe den Nachteil nicht, der entstehen könnte, wenn eine tüchtige und von unbegrenzten Hoffnungen geschwellte Generation beizeiten erfährt, dass ein Teil dieser Hoffnungen zu Fehlschlägen führen muss. Mögen es die teuersten sein; wer etwas wert ist, wird das überwinden. Es ist wahr, dass es für einzelne tragisch ausgehen kann, wenn sich ihrer in den entscheidenden Jahren die Gewissheit bemächtigt, dass im Bereiche der Architektur, des Dramas, der Malerei, für sie nichts mehr zu erobern ist. Mögen sie zugrunde gehen.

Man war sich bisher einig darüber, hier keinerlei Schranken anzuerkennen; man glaubte, dass jede Zeit auf jedem Gebiet auch ihre Aufgabe habe; man fand sie, wenn es sein musste, mit Gewalt und schlechtem Gewissen, und jedenfalls stellte es sich erst nach dem Tode heraus, ob der Glaube einen Grund hatte und ob die Arbeit eines Lebens notwendig oder überflüssig gewesen war. Aber jeder, der nicht bloßer Romantiker ist, wird diese Ausflucht ablehnen. (…)

Ich betrachte diese Lehre als eine Wohltat für die kommenden Generationen, weil sie ihnen zeigt, was möglich und also notwendig ist und was nicht zu den innern Möglichkeiten der Zeit gehört. Es ist bisher eine Unsumme von Geist und Kraft auf falschen Wegen verschwendet worden.

Der westeuropäische Mensch, so historisch er denkt und fühlt, ist in einem gewissen Lebensalter sich nie seiner eigenen Richtung bewusst. Er tastet und sucht und verirrt sich, wenn die äußeren Anlässe ihm nicht günstig sind. Hier endlich hat die Arbeit von Jahrhunderten ihm die Möglichkeit gegeben, die Lage seines Lebens im Zusammenhang mit der Gesamtkultur zu übersehen und zu prüfen, was er kann und soll.“

„…wir haben diese Zeit nicht gewählt. Wir können es nicht ändern, dass wir als Menschen des beginnenden Winters der vollen Zivilisation und nicht auf der Sonnenhöhe einer reifen Kultur zur Zeit des Phidias oder Mozart geboren sind. Es hängt alles davon ab, dass man sich diese Lage, dies Schicksal klar macht und begreift, dass man sich darüber belügen, aber nicht hinwegsetzen kann.“ (Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1922/23)


„So hatte sich also die Zeit geändert, wie ein Tag, der strahlend blau beginnt und sich sacht verschleiert, und hatte nicht die Freundlichkeit besessen, auf Ulrich zu warten. Er vergalt es seiner Zeit damit, dass er die Ursache für die geheimnisvollen Veränderungen, die ihre Krankheit bildeten, indem sie das Genie aufzehrten, für ganz gewöhnliche Dummheit hielt. Durchaus nicht in einem beleidigenden Sinn. Denn wenn die Dummheit nicht von innen dem Talent zum Verwechseln ähnlich sehen würde, wenn sie außen nicht als Fortschritt, Genie, Hoffnung, Verbesserung erscheinen könnte, würde wohl niemand dumm sein wollen, und es würde keine Dummheit geben. Zumindest wäre es sehr leicht, sie zu bekämpfen. (…)

Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen. Die Wahrheit dagegen hat jeweils nur ein Kleid und einen Weg und ist immer im Nachteil.

Nach einer Weile hatte Ulrich aber in Verbindung damit einen wunderlichen Einfall. Er stellte sich vor, der große Kirchenphilosoph Thomas von Aquino, gestorben 1274, nachdem er die Gedanken seiner Zeit unsäglich mühevoll in beste Ordnung gebracht hatte, wäre damit noch gründlicher in die Tiefe gegangen und soeben erst fertig geworden; nun trat er, durch besondere Gnade jung geblieben, mit vielen Folianten unter dem Arm aus seiner rundbogigen Haustür, und eine Elektrische saust ihm an der Nase vorbei. Das verständnislose Staunen des Doctor universalis, wie die Vergangenheit den berühmten Thomas genannt hat, belustigte ihn. (…)

„Man kann seiner eignen Zeit nicht böse sein, ohne selbst Schaden zu nehmen“ fühlte Ulrich.

Er war auch jederzeit bereit, alle diese Gestaltungen des Lebendigen zu lieben. Was er niemals zustande brachte, war bloß, sie restlos, so wie es das soziale Wohlgefühl erfordert, zu lieben; seit langem blieb ein Hauch von Abneigung über allem liegen, was er trieb und erlebte, ein Schatten von Ohnmacht und Einsamkeit, eine universale Abneigung, zu der er die ergänzende Neigung nicht finden konnte.

Es war ihm zuweilen geradeso zumute, als wäre er mit einer Begabung geboren, für die es gegenwärtig kein Ziel gab.“ (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1931/32)